Worum geht es?
In der Rechtssache C‑588/21 P wurde der EuGH dazu berufen, sich mit der Frage nach dem Zugang zu „harmonisierten“ technischen Normen zu beschäftigen. Gegenstand des Verfahrens war der Antrag bei der Kommission auf Zugang zu vier vom Europäisches Komitee für Normung („CEN“) angenommenen Normen wie etwa EN 71 5:2015 „Sicherheit von Spielzeug – Teil 5: Chemisches Spielzeug (Sets) ausgenommen Experimentierkästen“. Mit dem Urteil vom 05. März 2024 sprach sich der Gerichtshof für ein freies Zugangsrecht zu eben diesen harmonisierten technischen Normen aus.
Wesentliche Entscheidungsgründe:
In der Entscheidung stellte der EuGH klar, dass jeder natürlichen oder juristischen Person mit Wohnsitz oder Sitz in einem Mitgliedstaat ein Recht auf Zugang zu Dokumenten der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union hat (Art. 15 Abs. 3 AEUV und Art. 42 Charta der Grundrechte der Europäischen Union). Die Modalitäten dieses Anspruchs werden weiter in der Verordnung Nr. 1049/2001 geregelt.
Das Zugangsrecht ist nach dieser Verordnung insbesondere zum Schutz des geistigen Eigentums eingeschränkt, es sei denn, dass ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung besteht. Entgegen allen Erwartungen hat sich der EuGH nicht mit der Frage (erneut) beschäftigt, ob EN-Normierungen urheberrechtsfähig sind. Stattdessen stellte das Gericht fest, dass ein öffentliches Interesse an Verbreitung besteht. Dies ergibt sich ausfolgenden Gesichtspunkten:
Technische Bestimmungen, die durch EU-Recht verbindlich sein sollen, können nach der Rechtsprechung des EuGH den Einzelnen grundsätzlich nur dann entgegengehalten werden können, wenn sie selbst im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht worden sind. Diese Anforderungen gelten selbst dann, wenn die Einhaltung der Normen nicht zwingend ist, aber durch die Einhaltung der Normen die Konformität mit europäischen Vorgaben vermutet wird.
Aus dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit gem. Art. 2 EUV ergibt sich, dass alle natürlichen und juristischen Personen der Union die Möglichkeit haben müssen, ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen zu können. Auch die von EU-Vorschriften geschützten Personenkreise müssen die Möglichkeit haben, zu prüfen, ob die Grenzen des rechtlichen Zulässigen noch eingehalten werden.
Daraus leitet der EuGH ab, dass für solche Normen, die der Kommission zur Verfügung stehen, ein Zugangsrecht besteht.
Was folgt daraus?
Der vom EuGH entschiedene Rechtsstreit enthält wegen der spezifischen Klagesituation überwiegend konkrete Vorgaben für eine besondere Zugangssituation. Gleichwohl lässt sich der Entscheidung generalisierend entnehmen, dass jedenfalls dann, wenn auf technische Normen konkret in Verordnungen Bezug genommen wird, diese Normen frei (und auch kostenlos) zugängig sein müssen. Zukünftig werden sich somit europäische Institutionen damit zu beschäftigen haben, wie sie diesen Anforderungen gerecht werden können. Dies führt auch zu erheblichen finanziellen Verlusten auf Seiten der Normungsorganisationen.
Nicht geklärt wurde in dem Verfahren jedoch die übergeordnete Frage, ob technische Normierungen Urheberschutz genießen und ob ein solches Zugangsrecht auch dann besteht, wenn das Europarecht nicht unmittelbar Bezug auf die Normen nimmt. Erwartungsgemäß wird dieses Schweigen von Kritikern und Befürwortern solcher Normierungen unterschiedlich ausgelegt. Nach diesseitiger Auffassung lässt sich aus dem Urteil kein generelles Zugangsrecht für technische Normen entnehmen, die gar keinen oder maximal mittelbaren Bezug zu europäischen Vorgaben aufweisen.
Ein Wackeln an den Grundpfeilern der Europäischen technischen Normierungen ist damit – entgegen anderweitigen Verlautbarungen im Internet – wohl nicht zu erwarten. Klar ist jedoch, dass sich die Normungsorganisationen auf erhebliche Veränderungen einstellen müssen. Obschon das Finanzierungskonzept dieser Normen nicht insgesamt in Frage gestellt wird, gibt es zahlreiche EU-Vorschriften, die technische Bestimmungen rechtlich aufwerten und die zukünftig kostenlos zur Verfügung zu stellen sind.
Marvin Klein
Rechtsanwalt
15. April 2024