
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 16. Januar 2025 eine bedeutende Entscheidung im Verfahren C-424/23 gefällt. Das Urteil befasst sich mit der Zulässigkeit von Materialvorgaben bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge. Dabei führt der Gerichtshof im Ergebnis aus, dass die bereits bekannten Grundsätze für Produktvorgaben auch für die Materialvorgaben gelten müssen. Grundsätzlich solle eine künstliche Einengung des Wettbewerbs – welche mit einer unbegründeten Materialvorgabe einhergehe – vermieden werden. Damit schafft der EuGH erheblichen Mehraufwand für die Auftraggeber, welcher mit neuen Risiken für diese einhergeht. Für Bieter entstehen durch das Urteil hingegen neue Chancen.
Sachverhalt
Ein Hersteller und Anbieter von Abwasserrohren aus Kunststoff klagte gegen die Vergabe eines öffentlichen Bauauftrages in Belgien. Dort sollten Abwasserkanäle erneuert werden. Die ausschreibende Gesellschaft gab dabei für die Systeme zur Ableitung von Abwasser die Verwendung von Rohren aus Steinzeug und für die Systeme zur Ableitung von Regenwasser die Verwendung von Rohren aus Beton vor. Auf die Aufforderung des klagenden Unternehmens, die Ausschreibung hinsichtlich der Materialvorgabe anzupassen, reagierte das ausschreibende Unternehmen nicht mit einer Anpassung der Vorgaben. Nach Klageerhebung legte das Gericht in Belgien dem EuGH vier Fragen zur Vorabentscheidung vor. Maßgeblich für die Frage, ob ein Auftraggeber Materialvorgaben machen darf und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen, waren die Fragen 2 und 3.
Die Entscheidung des EuGH
Unter Verweis auf den Grundsatz, dass nach Art. 42 Abs. 4 der RL 2014/24 keine bestimmten Herstellungen oder Herkünfte oder besondere Verfahren sowie Marken, Patente oder bestimmte Produktionen vorgegeben werden dürfen, kommt der EuGH in dem vorstehend beschriebenen Fall zu dem Schluss, dass eine Materialvorgabe von Steinzeug bzw. Beton gegen das Vergaberecht verstößt. Eine solche Vorgabe verhindere, dass das öffentliche Auftragswesen für den Wettbewerb geöffnet werde. Vielmehr hätte der Auftraggeber Leistungs- oder Funktionsanforderungen benennen müssen, statt lediglich auf eine bestimmte Produktion zu verweisen. Hierdurch setzt der EuGH die Vorgabe eines Materials mit der Vorgabe eines Produktes gleich.
Auch führt der EuGH aus, dass die Ausnahmen von dem Grundsatz der „produkt- und materialneutralen“ Vergabe in dem zu entscheidenden Fall wohl nicht vorlagen. Die Ausnahmen ergeben sich dabei aus dem Auftragsgegenstand. So können etwa Gründe der Ästhetik oder Notwendigkeit des Einfügens eine Materialvorgabe begründen. Ebenfalls begründet eine technische Notwendigkeit eine konkrete Materialvorgabe. Auch könne das Material mit dem Zusatz „oder gleichwertig“ versehen werden, sofern eine genauere Beschreibung anders nicht möglich ist. Sollten die Ausnahmen nicht vorliegen, so müsse der Auftraggeber sich auf die Leistungs- und Funktionsanforderungen beschränken.
Einschätzung und Ausblick
Mit dieser Entscheidung hat der EuGH klargestellt, dass für die Vorgabe von Materialien in Leistungsverzeichnissen oder in Leistungsbeschreibungen die gleichen Grundsätze gelten, wie für die produktneutrale Ausschreibung. Aus dieser Entscheidung ergeben sich jedoch zahlreiche Folgefragen, die bislang noch nicht abschließend beantwortet werden. Bedauerlich ist, dass der EuGH sich in der Entscheidung ausschließlich auf den – sicherlich sehr gewichtigen – Wettbewerbsgedanken stützt, aber eine Auseinandersetzung mit dem Leistungsbestimmungsrecht des Auftraggebers nicht stattfindet. Zudem gehen mit diesem jüngsten Urteil des EuGH viele neue Stolperfallen für die Auftraggeber einher.
Zwar wird abzuwarten sein, wie die nationalen Spruchkörper die Grundsatzentscheidung des EuGH interpretieren und umsetzen werden. Denn wie das Urteil sich auf das Regel-/Ausnahmeverhältnis des § 7b VOB/A EU auswirkt, ist derzeit noch unklar. So sieht die VOB/A für Bauleistungen den Vorrang des Leistungsverzeichnisses vor. Aus dem Urteil des EuGH ergibt sich jedoch gegenteilig, dass die Leistungen grundsätzlich anhand der Funktionsanforderungen zu beschreiben sind. Dies bedeutet einen faktischen Vorrang der funktionalen Leistungsbeschreibung. Wie dieser Widerspruch aufgelöst wird, wird noch von den Vergabekammern zu klären sein.
Sollten die Aufraggeber zukünftig dennoch Leistungsverzeichnisse verwenden, so muss für jedes einzelne Material geprüft und dokumentiert werden, ob eine konkrete Vorgabe zulässig ist. Der damit einhergehende zusätzliche Prüfungs- und Dokumentationsaufwand sorgt gleichermaßen für ein gesteigertes Rügerisiko. Denn Marktteilnehmer mit bisher eher „unüblichen“ Angeboten werden zukünftig genau schauen, ob die Ausschreibungen „materialneutral“ sind. Hierdurch bieten sich auch Möglichkeiten für solche Bieter, bisher nicht besetzte Marktsegmente zu erschließen.
Ausgeschlossen ist jedoch, dass Anbieter von einzelnen Baustoffen Nachprüfungsanträge stellen können, da es regelmäßig an einem Rechtsschutzinteresse im Sinne des § 160 GWB mangeln dürfte.
Mit großem Interesse darf daher die verfolgt werden, welche Auswirkungen das Urteil auf die Vergabepraxis haben wird und wie die Vergabekammern und Oberlandesgerichte hierauf reagieren.
Sollten Sie in diesem Zusammenhang ebenfalls offene Fragen haben, etwa bei der Erstellung eines Leistungsverzeichnisses oder auch eines Angebotes, unterstützen wir Sie gerne.
Köln, den 16.04.2025
Alexander Thesling
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Vergaberecht