Tätigkeitsgebiete Versicherung // Haftung
Widersprüchliche Sachverständigengutachten im Arzthaftungsprozess
In Arzthaftungsprozessen findet in der Regel eine ausführliche Beweisaufnahme mit umfassender Begutachtung des medizinischen Geschehens statt. Häufig sind bereits vorgerichtlich Begutachtungen erfolgt, sei es im Rahmen der Verfahren bei ärztlichen Gütestellen, durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) oder durch Einholung eigener Privatgutachten.
Der BGH hat in einem Urteil vom 11.11.2014 (VI ZR 76/13) für den Arzthaftungsprozess erneut die Pflicht des Tatrichters hervorgehoben, Widersprüchen zwischen Äußerungen mehrerer Sachverständiger von Amts wegen nachzugehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, auch wenn es sich um Privatgutachten handelt.
Klägerin in dem zugrundeliegenden Verfahren war die Witwe und Alleinerbin des verstorbenen Patienten, bei dem eine hochgradige exzentrische Mitralinsuffizienz bei partiellem Sehnenabriss des hinteren Mitralsegels festgestellt worden war. Einer der Beklagten war der geschäftsführende Direktor und Chefarzt der Herzchirurgie der von der ebenfalls verklagten Universitätsklinik. Er empfahl dem Patienten eine operative Korrektur der Mitralklappe. Die Operation wurde durchgeführt, ohne dass es dabei zu Komplikationen kam. Nach der Operation wurde der Patient auf die kardiochirurgische Intensivstation verlegt, wo die ebenfalls verklagte Krankenschwester zu seiner Überwachung eingeteilt war, die weiter in Anspruch genommene Beklagte die Schichtdienstleitung im Pflegedienst innehatte und eine weitere verklagte Krankenschwester ihren Dienst in einem anderen Krankenzimmer versah. Zwischen 22.30 Uhr und 23.00 Uhr kam es beim Patienten zu einem reanimationspflichtigen Zustand. Er wurde reanimiert und intubiert. Am Folgetag wurde bei ihm eine hypoxische Hirnschädigung festgestellt. Kurz darauf verstarb der Patient in einer Rehabilitationsklinik.
Die Klägerin ging insbesondere von Versäumnissen bei der postoperativen Pflege und Überwachung des Patienten auf der Intensivstation aus und hielt die Einwilligung des Patienten in die Operation für unwirksam. Sie nahm die Beklagten auf Schadensersatz in Anspruch.
Das Landgericht hat die Klage auf der Basis des gerichtlichen Sachverständigengutachtens abgewiesen, das Berufungsgericht die dagegen gerichtete Berufung zurückgewiesen.
Die Revision hatte hingegen Erfolg und führte zur Aufhebung des Urteils und Zurückweisung des Rechtstreits an das Berufungsgericht.
Der BGH stellte Rechtsfehler bei der Annahme des Berufungsgerichts fest, aus der Tatsache, dass es bei dem Patienten zu einem hypoxischen Hirnschaden gekommen sei, lasse sich nicht schließen, dass es vor der Reanimation eine länger andauernde Atemdepression und somit eine länger andauernde Abwesenheit der verklagten überwachenden Krankenschwester gegeben habe. Die Revision beanstande zu Recht, das Berufungsgericht habe zu dieser Einschätzung nicht gelangen dürfen, ohne sich mit den entgegenstehenden Ausführungen aus dem von der Klägerseite vorgelegten Privatgutachten auseinanderzusetzen. In Arzthaftungsprozessen habe der Tatrichter nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung die Pflicht, Widersprüchen zwischen Äußerungen mehrerer Sachverständiger von Amts wegen nachzugehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, auch wenn es sich um Privatgutachten handelt. Der Tatrichter dürfe den Streit der Sachverständigen nicht dadurch entscheiden, dass er ohne einleuchtende und logisch nachvollziehbare Begründung einem von ihnen den Vorzug gebe.
Da nicht ausgeschlossen werden konnte, dass das Berufungsgericht zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn es sich mit den Ausführungen des Privatgutachters auseinandergesetzt hätte, wurde das Berufungsurteil gemäß § 563 Abs. 1 ZPO aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Fazit
Diese aktuelle Entscheidung bestätigt die Linie der Rechtsprechung. Eine Betrachtung der Entscheidungen des BGH aus den letzten Jahren zeigt, dass ein wesentlicher Aspekt bei aufhebenden Entscheidungen eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör war, wobei es sich häufig um Fragen und Unterlassungen im Zusammenhang mit Sachverständigengutachten handelte. Insofern ist besonderes Augenmerk darauf zu richten, allen vorhandenen Gutachten, und zwar sowohl gerichtlichen als auch Privatgutachten, die gebotene Aufmerksamkeit zu widmen, um Widersprüche und mögliche Unklarheiten rechtzeitig zu erkennen und nachzugehen. Trotz langdauernder Verfahren und langwieriger Auseinandersetzung gerade bei – wie häufig der Fall - mehreren vorliegenden und (teilweise) divergierenden Gutachten ist eine genaue Analyse bestehender Widersprüche vorzunehmen. Die Parteien des Prozesses sollten trotz der an eine Amtsermittlung grenzenden Prozessleitung des Gerichts hierauf hinwirken. Das Gericht hat zur Wahrung des Anspruchs der Parteien auf rechtliches Gehör nach §§ 397, 402 ZPO den Sachverständigen auf Antrag der Parteien zur Erläuterung seines Gutachtens zur Sachverhaltsaufklärung mündlich anzuhören, gegebenenfalls auch noch in zweiter Instanz (BGH vom 28. 10. 2014 – BGH VI ZR 273/13).
Dr. Marc Anschlag
Rechtsanwalt
3. Dezember 2015
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