Tätigkeitsgebiete Unternehmen // Unternehmer
Allein auf hoher See: Die verhaltensbedingte Kündigung ohne vorherige Abmahnung
1.
Der Fall „Emmely“ (BAG v. 10.6.2010 – 2 AZR 541/09, NZA 2010, 1227) hat es ans Licht gebracht: Ein Diebstahl rechtfertigt nicht ohne weiteres eine fristlose Kündigung ohne vorherige Abmahnung, wenn das Arbeitsverhältnis langjährig besteht. Zugegeben, es handelte sich um Pfandbons im Wert von 1,30 €. Andererseits war die Klägerin immerhin als Kassiererin im Einzelhandel in verantwortlicher Position tätig. Außerdem kennt das Arbeitsrecht eine (Un)Wertgrenze vergleichbar den „geringwertigen Sachen“ im Strafrecht (§ 248 a StGB) nicht. Diebstahl ist also „eigentlich“ Diebstahl und Straftat ist Straftat. Das BAG sieht dies indes gelegentlich anders. Der zuständige 2. Senat jedenfalls hat in dieser Entscheidung den schon bekannten Entscheidungsparametern – vielleicht ein klein wenig ergebnisorientiert – noch das sogenannte „Vertrauenskapital“ hinzugefügt: eine Art Vorrat für langjährig beschäftigte Mitarbeiter, der bei einem erstmaligen Verstoß, auch in Form einer Straftat, zunächst einmal aufgebraucht werden darf und muss. Dabei hat das BAG auch das Nachtat-Verhalten der Kassiererin betrachtet, die verschiedene, den Betriebsfrieden durchaus belastende mögliche Geschehensabläufe zu ihrer Entlastung vorgetragen hatte. Das BAG gelangte zu dem Ergebnis, dass auch dieses Verhalten keine andere Beurteilung rechtfertige und die Kündigung unter Berücksichtigung aller Umstände unwirksam sei.
2.
In der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass das Verhalten eines Arbeitnehmers nach der Tat sowohl positiv durch die Einräumung der Tat und Mitwirkung an der Aufklärung des Sachverhalts oder das Bemühen um Wiedergutmachung als auch negativ durch das Leugnen der Tat oder die Begehung weiterer Täuschungshandlungen berücksichtigt werden kann. Grundsätzlich gilt aber als maßgeblicher Zeitpunkt sowohl für be- als auch entlastende Umstände der Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung. Aber auch von dieser Regel gibt es Ausnahmen.
So hat das BAG in einer Entscheidung vom 20. November 2014 (2 AZR 651/13), die es sogar in die Boulevardblätter geschafft hat, die Kündigung eines seit rund 20 Jahren beschäftigten Kfz-Mechanikers wegen sexueller Belästigung der Mitarbeiterin eines externen Reinigungsunternehmens für unwirksam erklärt. Der dortige Kläger hatte gegenüber der Frau geäußert, sie habe einen schönen Busen und diese dort berührt, sein Verhalten auf Aufforderung der Frau aber sofort unterlassen, dieses gegenüber dem Arbeitgeber auf späteren Vorhalt sofort eingeräumt, sich für sein Verhalten entschuldigt und erklärt, er schäme sich sehr, so etwas werde sich nicht wiederholen. Nach Ausspruch der fristlosen Kündigung hatte der Kläger auch noch ein Entschuldigungsschreiben an die Frau gesendet und dieser ein Schmerzensgeld gezahlt. Das BAG gab der Kündigungsschutzklage mit der Begründung statt, auch wenn entschuldigendes Verhalten erst unter dem Eindruck einer drohenden Kündigung gezeigt werde, könne es die Annahme, es bestehe keine Wiederholungsgefahr, jedenfalls dann stützen, wenn es sich um die Bestätigung einer bereits zuvor gezeigten Einsicht handele.
3.
Das LAG Berlin-Brandenburg hatte in seinem Urteil vom 17. Mai 2017 (4 Sa 30/17) über die außerordentliche Kündigung einer Energiemanagerin im Außendienst zu entscheiden, die unter Verstoß gegen Compliance-Richtlinien des Arbeitgebers und unter Nichtbeachtung verschiedener abschlägiger Hinweise und Stellungnahmen u.a. der Rechtsabteilung des Arbeitgebers auf ihre entsprechenden Nachfragen hin dem Geschäftsführer eines Kunden für den Abschluss eines Energieversorgungsvertrages mit dessen Unternehmen auf dessen nachhaltiges Drängen einen Bonus für die Energieversorgung seines Privathauses gewährt hatte. Die Klägerin erhielt eine erfolgsabhängige Vergütung bei Erreichung bestimmter Vertriebsziele und stand wegen des Kunden-Bonus auch im Kontakt mit ihrem unmittelbaren Vorgesetzten, der zunächst noch versucht hatte, die Zahlung des Bonus durch interne Absprachen zu unterstützen, die Zahlung aber letztlich nicht ausdrücklich genehmigt hatte. Vor Ausspruch der Kündigung nahm die Klägerin auf Aufforderung des Arbeitgebers zweimal unter Verweis auf den umfangreichen Emailverkehr schriftlich Stellung zum Sachverhalt und erklärte ihre umfassende Bereitschaft zur Aufklärung. Der Arbeitgeber wertete das Verhalten der Klägerin – nicht ganz zu Unrecht – als Bestechung und verwies auf seine „Null-Toleranz-Strategie“ in diesen Dingen.
Im Rahmen des Verfahrens hat die Klägerin einen Verstoß gegen die Verhaltens- und Compliance-Regelungen des Arbeitgebers zugestanden, jedoch die Verantwortung sowohl für die aktive Planung als auch die interne Abstimmung des Vorhabens allein bei ihrem Vorgesetzten gesehen. Ihr sei vorzuwerfen, nicht den Mut gehabt zu haben, sich dem allgemeinen Druck zu widersetzen.
Das LAG hat die erstinstanzliche Entscheidung, die bereits der Kündigungsschutzklage der Klägerin stattgegeben hatte, bestätigt. Zwar rechtfertige das Verhalten der Klägerin „an sich“ eine Kündigung wegen erwiesener Tat. Unter Berücksichtigung der gesamten Umstände im Einzelfall sei die Kündigung aber unverhältnismäßig und damit sozial ungerechtfertigt. Denn die Klägerin habe angesichts des geradezu impertinenten Drucks, den der Geschäftsführer des Kunden durch die Drohung der Verweigerung eines Vertragsschlusses für sein Unternehmen ohne den Bonus für sein Privathaus, ausgeübt habe, unter erheblichem Druck gestanden. Auch dass die Klägerin vor Einräumung des Bonus das ausdrückliche Einverständnis des Vorgesetzten nicht eingeholt habe, rechtfertige die Kündigung nicht. Und schließlich habe die Klägerin in ihren Stellungnahmen nach der Tat auch nicht versucht, einen Verdacht haltlos auf andere Mitarbeiter abzuwälzen oder ihren Verstoß zu vertuschen.
Bei der Entscheidung handelt es sich zweifellos um eine Einzelfallentscheidung, worauf das LAG auch abhebt. Unabhängig von der Frage aber, welche Schlüsse Arbeitgeber aus dem Umstand ziehen sollten, dass der massive Druck eines Kunden mit etwas Pech die Gewährung von strafrechtlich relevanten Vorteilen rechtfertigen könnte, ist bemerkenswert, dass das LAG das Nachtat-Verhalten der Klägerin sehr großzügig und etwas einseitig zu deren Gunsten auslegt. Bei der nachgewiesenen Tat dürfte Arbeitnehmern – anders als im Fall der Verdachtskündigung – selten etwas anderes übrig bleiben, als die Vorwürfe einzuräumen, um zu retten, was noch zu retten ist. Ein durch die Umstände erzwungenes Nachtatverhalten ist aber „neutral“ und kann nicht zu Gunsten des Arbeitnehmers interpretiert werden. Dass die Klägerin mit ihren Stellungnahmen aus einem Verdacht erst Gewissheit werden ließ, ist nicht ersichtlich.
Der Umstand wiederum, dass sich die Klägerin während des Verfahrens auf ihre Angst vor ihrem Vorgesetzten berief und die Schuld bei diesem suchte, verdichtet die erfolgreiche Verteidigungsstrategie der Klägerin zu einer Art persönlichem Notstand: Branchen- bzw. Kundendruck einerseits und Erwartungen des Vorgesetzten andererseits rechtfertigen strafbare oder jedenfalls verbotene Handlungen selbst dann, wenn diese zuvor ausdrücklich untersagt wurden.
Bleibt zu hoffen, dass der – komplexe – Sachverhalt zu Gunsten der Klägerin und zur Rechtfertigung der Entscheidungen des Arbeitsgerichts und des LAG erleuchtende Elemente enthält, die nicht in den Entscheidungsabdrucken veröffentlicht wurden. Ansonsten läge wieder ein Beispiel aus der Kategorie „unverständliche Rechtsprechung“ vor.
Hiltrud Kohnen
Rechtsanwältin
5. April 2018
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