Der Zeitpunkt für die Erstbemessung der Invalidität bei der Unfallversicherung - der Bundesgerichtshof (BGH) stellt seine bislang kontrovers diskutierte Rechtsprechung klar.

In seinem Urteil vom 18. November 2015 (Az. IV ZR 124/15) hat der BGH sich aufgrund der bestehenden Unklarheiten nochmals mit der Frage beschäftigt, welcher Zeitpunkt für die Erstbemessung der Invalidität bei der Unfallversicherung maßgeblich ist.

In dem entschiedenen Fall waren die Klägerin und die beklagte Versicherung durch einen nach den Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen (AUB 2003) abgeschlossenen privaten Unfallversicherungsvertrag verbunden. Dieser enthielt unter anderem folgende Regelungen:

„2.1.1 Voraussetzungen der Leistung:
2.1.1.1 Die versicherte Person ist durch den Unfall auf Dauer in ihrer körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt (Invalidität).
Die Invalidität ist
innerhalb von 18 Monaten nach dem Unfall eingetreten und
innerhalb von 21 Monaten nach dem Unfall von einem Arzt schriftlich festgestellt und von Ihnen bei uns geltend gemacht worden.
9.4 Sie und wir sind berechtigt, den Grad der Invalidität jährlich, längstens bis zu drei Jahren nach dem Unfall, erneut ärztlich bemessen zu lassen."

Der BGH nahm das im November 2015 entschiedene Verfahren zum Anlass, eingehend zu der umstrittenen Frage Stellung zu nehmen, welcher Zeitpunkt für die Bestimmung des Invaliditätsgrades maßgeblich ist. Insoweit kommen vor allem der Ablauf der in Ziff. 2.1.1.1 (AUB 2003) bestimmten 18-Monats-Frist (so dass OLG Saarbrücken VersR 2014, 1246, 1248) oder der in Ziff. 9.4 (AUB 2003) bestimmten 3-Jahres-Frist (so OLG Oldenburg VersR 2015, 883) sowie der Tag der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung (so OLG Düsseldorf VersR 2013, 1573) in Betracht. Auf die entsprechende Unklarheit wurde bereits in der Kolumne im September 2015 eingegangen.

In der nun veröffentlichten Entscheidung des BGH wird klargestellt, dass bei der Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunktes strikt zwischen der Erstbemessung und einer Neubemessung der Invalidität zu unterscheiden ist. Während für die Neubemessung die 3-Jahres-Frist (Neubemessungsfrist) gelte, sei für die Erstbemessung grundsätzlich der Zeitpunkt des Ablaufs der Invaliditätseintrittsfrist entscheidend (im entschiedenen Fall 18-Monats-Frist). Etwas anderes gelte nur, wenn der Versicherungsnehmer noch vor Ablauf der Neubemessungsfrist Invaliditätsansprüche klageweise geltend mache. Da die Parteien dann von einer Klärung der Angelegenheit im Prozess ausgehen, sei in diesem Fall die Neubemessungsfrist ausnahmsweise auch für die Erstbemessung entscheidend.

Der Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung ist somit nach der Entscheidung vom 18.11.2015 für die Erstbemessung allenfalls noch mittelbare relevant. Die erst im Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung bekannten Umstände können nur insoweit Berücksichtigung finden, als sie die Grundlagen der zum Zeitpunkt des Ablaufs der Invaliditätseintrittsfrist anzustellenden Prognose betreffen.

Entscheidend wird dies erst dann, wenn sich in einer Rückschau auf den Zeitpunkt des Ablaufs der Invaliditätseintrittsfrist bessere tatsächliche Erkenntnismöglichkeiten für die Prognose des Eintritts der Invalidität und ihres Grades eröffnen.

In dem entschiedenen Fall hat der BGH die mit Schreiben vom 22. Juli 2010 erfolgte Festsetzung des Invaliditätsgrades als eine abschließende Erstbemessung qualifiziert. Dementsprechend müsse die Überprüfung dieser Erstbemessung mittels „eine[r] retrospektive[n] Beurteilung der Invalidität des Beklagten zum Stichtag 28. Oktober 2008“ (Ablauf der 18-Monats-Frist) erfolgen. Zu diesem, den Ablauf der Invaliditätseintrittsfrist markierenden, Stichtag nicht vorhersehbare oder nachträgliche gesundheitliche Entwicklungen seien hingegen, so der BGH nunmehr klarstellend, bei der gerichtlichen Überprüfung der Erstbemessung nicht von Belang.

Die Maßgeblichkeit des Ablaufs der Invaliditätseintrittsfrist für die Erstbemessung begründet der BGH mit der in den AUB 2003 festgelegten Differenzierung zwischen der Erst- und Neubemessung, die auch im Hinblick auf den Bemessungszeitpunkt durchschlagen müsse (so auch OLG Saarbrücken VersR 2014, 1246, 1248).

Durch das Abstellen auf den Ablauf der Invaliditätseintrittsfrist werden zudem „zeitliche Zufälligkeiten“ vermieden, wie sie etwa beim Abstellen auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung (OLG Düsseldorf VersR 2013, 1573), der vom Versicherer veranlassten ärztlichen Invalidititätsfeststellung (so OLG Hamm VersR 2015, 881) oder der Erstbemessung durch den Versicherer (so OLG München VersR 2015, 482) auftreten. Das Abstellen auf den Ablauf der Invaliditätseintrittsfrist wird nach Meinung des BGH auch dem Zweck der AUB 2003, „die abschließende Bemessung der Invalidität nicht auf unabsehbare Zeit hinauszuschieben“, am ehesten gerecht.

Insgesamt ist die Entscheidung des BGH angesichts der stark differierenden Rechtsprechung der Oberlandesgerichte und der bislang nicht eindeutigen BGH-Rechtsprechung jedenfalls aus Gründen der Rechtssicherheit zu begrüßen. Wenngleich die AUB 2014 den für die Erstbemessung maßgeblichen Zeitpunkt in Ziff. 2.1.2.2 deutlicher als die AUB 2003 definieren und daher hoffentlich noch mehr zur Rechtssicherheit beitragen werden hat das Urteil vom 18. November 2015 gerade für Altverträge nach Maßgabe der AUB 2003 und älter eine große Bedeutung und wird in künftigen Gerichtsverfahren das Augenmerk verstärkt auf die Bewertung der Prognose der zukünftigen gesundheitlichen Entwicklung des Versicherungsnehmers lenken.

Christian W. Terno
Rechtsanwalt
22. Februar 2016

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