Tätigkeitsgebiete Blog, Verwaltung // Öffentliche Hand
Hochwasser und Dringlichkeitsvergabe
Es waren schreckliche Bilder, die wir in den vergangenen Tagen an Bildschirmen und in Zeitungen verfolgen mussten. Die Flutkatastrophen in Rheinland-Pfalz und NRW oder zuletzt in Bayern und Sachsen ließen große Zerstörung zurück. Die Schäden, die durch die Wassermassen entstanden sind, werden noch lange aufgearbeitet und beseitigt werden müssen. Hier ist, neben Versicherern und der Gesellschaft, auch der Staat in besonderem Maße gefragt. Denn neben individuellen Schäden wurde auch die Infrastruktur erheblich geschädigt. So sind etwa Autobahnen, Straßen, Brücken und Leitungen sowie Netzinfrastrukturen nicht nur teilweise, sondern mancherorts auch vollständig zerstört. In den kommenden Wochen, Monaten und Jahren wird beim Wiederaufbau der Infrastruktur das Vergaberecht eine wichtige Rolle einnehmen. Um einen möglichst raschen Wiederaufbau zu gewährleisten, ist insbesondere auch die Wahl des Vergabeverfahrens entscheidend. Bisher sind noch keine Maßnahmen zur Vereinfachung der Vergaben durch den Gesetzgeber oder die zuständigen Ministerien bekannt.
Im Folgenden geben wir Ihnen daher einen Überblick über die bestehenden Regelungen des Vergaberechts zur Dringlichkeitsvergabe. Auch die jüngste Rechtsprechung des OLG Düsseldorf vom 20. Dezember 2019 wird berücksichtigt. Dabei werden die Regelungen unterteilt in den Oberschwellenbereich, den Unterschwellenbereich und in die Sektorenvergabe. Am Ende wird die Frage beantwortet, welche Fristen bei Vergaben im Zusammenhang mit dem Hochwasser zu beachten sind und ob eine Dringlichkeitsvergabe möglich ist.
1) Öffentliche Aufträge ab Erreichen der EU-Schwellenwerte
Maßgeblich für die Zulässigkeit des Vergabeverfahrens im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb ist bei Bauaufträgen oberhalb des Schwellenwerts – EUR 5,35 Mio. – § 3a EU Abs. 3 VOB/A. Nach Abs. 3 Nr. 4 der Norm ist ein solches Verfahren zulässig, wenn „äußerste Dringlichkeit der Leistung aus zwingenden Gründen“ infolge von Ereignissen besteht, die der Auftraggeber weder verursacht hat, noch hätte voraussehen können. Folgende Voraussetzungen müssen für die Zulässigkeit dieses Verfahrens erfüllt sein:
a) Einhaltung der Fristen ist nachweislich nicht möglich.
b) Dies ist aufgrund von Ereignissen der Fall, die der Auftraggeber nicht verursacht hat bzw. nicht vorhersehen konnte.
c) Ein Kausalzusammenhang zwischen den Ereignissen und der Dringlichkeit.
Zwar haben die Auftraggeber das Ereignis, also das Hochwasser, nicht verursacht und konnten es auch nicht vorhersehen. Jedoch ist das Merkmal der Dringlichkeit sehr eng auszulegen, so dass die Vorschrift nur bei Gefahren für Leben und Gesundheit zum Tragen kommt. So entschied etwa das OLG Düsseldorf mit Beschluss vom 20.12.2019 (Az. Verg 18/19, Rn. 46)1. Äußerste Dringlichkeit kann nach dieser Rechtsprechung insbesondere nicht mit „bloßen wirtschaftlichen Erwägungen“ begründet werden. Akute Gefahren für Leib oder Leben bestehen infolge der durch die Flutkatastrophe zerstörten Infrastruktur in der Regel jedoch nicht. Eine Vergabe im Wege des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb ist somit derzeit grundsätzlich unzulässig.
Wir halten es jedoch für möglich, dass eine Katastrophe, wie wir sie in der vergangenen Woche erlebt haben, zu einer anderen Bewertung seitens der Rechtsprechung führen kann. Es gibt gute Argumente, die für die Annahme der äußersten Dringlichkeit im Sinne des § 3a EU Abs. 3 Nr. 4 VOB/A sprechen. So stellt die zerstörte Infrastruktur zwar keine unmittelbare Gefahr für Leib oder Leben der betroffenen Bürger dar. Allerdings ist durch die Zerstörung teilweise die Versorgung etwa mit Frischwasser nicht gewährleistet. Ebenfalls sorgen die beschädigten Straßen für eine schlechte Anbindung an Einkaufsmöglichkeiten, Gesundheitsdienste oder den öffentlichen Nahverkehr. Dies hat auch mittelbare Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen vor Ort. Und dabei ist auch die Erreichbarkeit der besonders schwer getroffenen Regionen ein Faktor, der nicht nur wirtschaftliche Erwägungen beinhaltet. Vielmehr handelt es sich auch um Gefahren für Leib und Leben der Menschen vor Ort, wenn auch nicht akut. Die Annahme einer äußersten Dringlichkeit bei Vergaben im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau der zerstörten Regionen und Ortschaften erscheint durchaus vertretbar. Zudem dürfte es den Bewohnern der schwer betroffenen Orte kaum vermittelbar sein, dass ihr Bedürfnis nach einer funktionierenden Infrastruktur gegenüber den Interessen möglicher Bieter an einer Beteiligung am Wettbewerb zurücktreten soll. Inzwischen vertritt auch des Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung (MHKBG) NRW die Auffassung, dass Dringlichkeitsvergaben zur Beseitigung der jetzt entstandenen Notstandsituation zulässig sei 2.
Jedenfalls sehen die §§ 10a EU und 10b EU VOB/A die Möglichkeit einer Verkürzung der Fristen bei Dringlichkeit in den übrigen Verfahren vor, selbst wenn man die Annahme der „äußersten Dringlichkeit“ verneint. Die Anforderungen an die Verkürzung der Fristen sind hier geringer, die Dringlichkeit darf jedoch ebenfalls nicht auf ein Verhalten des Auftraggebers zurückzuführen sein. Eine solche Dringlichkeit kann durchaus mit der Wichtigkeit einer funktionierenden Infrastruktur begründet werden.
Für Vergaben von Liefer- und Dienstleistungen (z. B. Planungsleistungen) oberhalb des Schwellenwertes (EUR 214.000) gelten die Regelungen der VgV. Nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV bedarf es ebenfalls äußerst dringlicher Grunde. Somit gelten die gleichen Ausführungen wie zur Vergabe von Bauleistungen.
2) Öffentliche Aufträge unterhalb des EU-Schwellenwertes
Für eine Dringlichkeitsvergabe bei Bauaufträgen unterhalb des oben genannten Schwellenwertes gilt § 3a Abs. 3 Nr. 2 VOB/A. Danach wäre eine freihändige Vergabe der Bauleistungen möglich. Entscheidendes Merkmal ist in dieser Norm die besondere Dringlichkeit. Die Anforderungen sind nicht so streng wie in § 3a EU Abs. 3 Nr. 4 VOB/A. Die besondere Dringlichkeit liegt allerdings auch nur in solchen Fällen vor, in denen die verkürzte Frist bei einer beschränkten Ausschreibung nicht eingehalten werden kann. Ein solcher anerkannter Fall ist die Beseitigung von Katastrophenschäden (vgl. Stolz, in Ingenstau/Korbion, VOB Teile A und B, § 3a VOB/A, Rn. 27). Eine freihändige Vergabe von Bauleistungen im Unterschwellenbereich ist demnach zulässig.
Ebenfalls zulässig ist die Vergabe im Rahmen einer beschränkten Ausschreibung ohne Teilnahmewettbewerb nach § 3a Abs. 2 Nr. 3 VOB/A. Die hier geforderte Dringlichkeit ist bei einer Schadensbeseitigung gegeben.
Für die Vergabe von Dienstleistungen ist im Unterschwellenbereich die UVgO maßgeblich. Nach § 8 Abs. 4 Nr. 9 UVgO besteht die Möglichkeit der Verhandlungsvergabe ohne Teilnahmewettbewerb, wenn Gründe für die besondere Dringlichkeit der Vergabe vorliegen. Wie zuvor dargestellt, ist die Beseitigung von Katastrophenschäden als Fall der besonderen Dringlichkeit anerkannt.
3) Sektorenvergabe
Im Rahmen der Sektorenvergabe geht es insbesondere um den Wiederaufbau von Netzen, sowohl im Bereich der Trinkwasser- als auch der Energieversorgung. Nach § 1 SektVO müssen Sektorenauftraggeber gemäß § 100 GWB ebenfalls das Vergaberecht beachten, wenn die Vergabe im Zusammenhang mit der Sektorentätigkeit steht. Für die Wahl des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb ist § 13 Abs. 2 Nr. 4 SektVO maßgeblich. Hiernach bedarf es äußerst dringlichen, zwingenden Gründen. Hierfür müssen ebenfalls drei Voraussetzungen gleichzeitig erfüllt sein:
a) Ein unvorhergesehenes Ereignis.
b) Dringliche und zwingende Gründe, die die Einhaltung von Fristen nicht zulassen.
c) Ein Kausalzusammenhang zwischen den ersten beiden Punkten.
Hier gelten die gleichen Grundsätze wie unter Punkt 1.). Die äußerste Dringlichkeit kann auch hier grundsätzlich nicht angenommen werden. Nach unserer Auffassung ist aber die Annahme der äußersten Dringlichkeit mit den zuvor aufgeführten Argumenten auch hier vertretbar.
Dem Sektorenauftraggeber steht es demnach frei, zwischen den Verfahren nach § 13 Abs. 1 SektVO zu wählen. Hier besteht etwa beim offenen Verfahren die Möglichkeit der Fristverkürzung, § 14 Abs. 3 SektVO. Voraussetzung ist die hinreichend begründete Dringlichkeit. Dies dürfte bei der Folgenbeseitigung einer Naturkatastrophe anzunehmen sein.
4) Ergebnis
Um die Folgen des Hochwassers zu beseitigen, können öffentliche Auftraggeber im Rahmen des Vergaberechts die Verfahren beschleunigen. Zwar ist es nach der bisherigen Rechtsprechung bei Vergaben oberhalb der EU-Schwellenwerte grundsätzlich nicht möglich, eine Vergabe im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb durchzuführen. Ob diese Rechtsprechung im Hinblick auf die jetzige Flutkatastrophe Bestand hat, bleibt abzuwarten. Wir meinen jedenfalls, dass im Einzelfall gute Argumente für die Zulässigkeit der Dringlichkeitsvergabe sprechen können. Jedenfalls können entsprechende Fristen sowohl nach den Regelungen der VOB/A EU und der VgV, als auch nach der SektVO verkürzt werden.
Im Rahmen von Vergaben unterhalb des Schwellenwertes besteht sogar die Möglichkeit einer freihändigen Vergabe. Die Anforderungen an die Dringlichkeit sind im § 3a Abs. 3 Nr. 2 VOB/A nicht so streng.
Es bleibt abzuwarten, ob der Gesetzgeber und die zuständigen Ministerien auf die Flutkatastrophe ähnlich wie auf die Corona-Pandemie mit Erleichterungen im Vergaberecht reagieren. Einen schnellen Wiederaufbau der Infrastruktur in den besonders stark betroffenen Gebieten würden solche Regelungen jedenfalls beschleunigen.
Alexander Thesling
Rechtsanwalt
Dr. Norbert Reuber
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Verwaltungsrecht
1. ferner OLG Düsseldorf, Beschl. v. 10.06.2015 – Verg 39/14; OLG Naumburg, Beschl. v. 14.03.2014 – 2 Verg 1/14; OLG Celle, Beschl. v. 29.10.2009 – 13 Verg 8/09, OLG München,
2. Erlass des MHKBG vom 19.07.2021.
Blog-Beiträge nach Tätigkeitsgebieten
Letzte Posts
Archiv
-
2024
- April 2024 (2 entries)
- March 2024 (2 entries)
- January 2024 (2 entries)
-
2023
- December 2023 (3 entries)
- November 2023 (2 entries)
- March 2023 (1 entry)
- February 2023 (1 entry)
-
2022
- December 2022 (1 entry)
- November 2022 (2 entries)
- October 2022 (1 entry)
- September 2022 (3 entries)
- August 2022 (1 entry)
- July 2022 (2 entries)
- June 2022 (1 entry)
- April 2022 (1 entry)
- March 2022 (1 entry)
- January 2022 (1 entry)
-
2021
- November 2021 (1 entry)
- October 2021 (1 entry)
- July 2021 (1 entry)
- June 2021 (1 entry)
- May 2021 (1 entry)
- March 2021 (1 entry)
- January 2021 (3 entries)
-
2020
- November 2020 (1 entry)
- September 2020 (1 entry)
- August 2020 (2 entries)
- July 2020 (1 entry)
- June 2020 (1 entry)
- May 2020 (2 entries)
- April 2020 (3 entries)
- March 2020 (16 entries)
- February 2020 (2 entries)
- January 2020 (3 entries)
-
2019
- November 2019 (1 entry)
- October 2019 (3 entries)
- August 2019 (2 entries)
- July 2019 (3 entries)
- June 2019 (1 entry)
- May 2019 (1 entry)
- April 2019 (1 entry)
- February 2019 (3 entries)
- January 2019 (2 entries)
-
2018
- October 2018 (2 entries)
- August 2018 (4 entries)
- July 2018 (5 entries)
- June 2018 (2 entries)
- May 2018 (3 entries)
- April 2018 (3 entries)
- March 2018 (2 entries)
- February 2018 (1 entry)
- January 2018 (6 entries)
-
2017
- December 2017 (2 entries)
- November 2017 (3 entries)
- September 2017 (2 entries)
- August 2017 (1 entry)
- July 2017 (2 entries)
- June 2017 (3 entries)
- May 2017 (2 entries)
- April 2017 (4 entries)
- March 2017 (2 entries)
- February 2017 (2 entries)
- January 2017 (3 entries)
-
2016
- December 2016 (2 entries)
- November 2016 (4 entries)
- October 2016 (3 entries)
- September 2016 (3 entries)
- August 2016 (4 entries)
- July 2016 (6 entries)
- June 2016 (4 entries)
- May 2016 (5 entries)
- April 2016 (5 entries)
- March 2016 (10 entries)
- February 2016 (6 entries)
- January 2016 (9 entries)
-
2015
- December 2015 (9 entries)
- November 2015 (4 entries)
- October 2015 (5 entries)
- September 2015 (5 entries)
- August 2015 (3 entries)
- June 2015 (8 entries)
- April 2015 (2 entries)
- January 2015 (2 entries)
-
2014
- December 2014 (2 entries)
- November 2014 (1 entry)
- May 2014 (1 entry)
- April 2014 (2 entries)
- February 2014 (3 entries)
- January 2014 (1 entry)
-
2013
- November 2013 (1 entry)
- June 2013 (3 entries)
- May 2013 (2 entries)
- April 2013 (1 entry)
-
2012
- November 2012 (1 entry)
- August 2012 (1 entry)
- July 2012 (1 entry)
- March 2012 (1 entry)
- January 2012 (3 entries)
-
2011
- December 2011 (1 entry)
- November 2011 (1 entry)
- October 2011 (1 entry)
- September 2011 (1 entry)
- July 2011 (2 entries)
- June 2011 (2 entries)
- February 2011 (2 entries)
-
2010
- July 2010 (1 entry)
- June 2010 (1 entry)
- May 2010 (1 entry)
- April 2010 (1 entry)
- March 2010 (1 entry)
- February 2010 (1 entry)
-
2009
- December 2009 (1 entry)
- September 2009 (1 entry)
- August 2009 (1 entry)
- April 2009 (1 entry)
- March 2009 (1 entry)
- January 2009 (1 entry)
-
2008
- October 2008 (1 entry)
- May 2008 (1 entry)
- April 2008 (4 entries)
- March 2008 (2 entries)
- February 2008 (4 entries)
- January 2008 (6 entries)
-
2007
- December 2007 (2 entries)
- November 2007 (2 entries)
- October 2007 (2 entries)
- August 2007 (3 entries)
- July 2007 (1 entry)
- June 2007 (1 entry)
-
2006
- June 2006 (1 entry)